Worpswede -

Künstlerkolonie am Teufelsmoor

„Es ist ein seltsames Land. Wenn man auf dem kleinen Sandberg von Worpswede steht, kann man das Land ringsum ausgebreitet sehen, ähnlich jenen Bauerntüchern, die auf dunklem Grund Ecken tief leuchtender Blumen zeigen. Flach liegt es da, fast ohne Falte, und die Wege und Wasserläufe führen weit in den Horizont hinein. Dort beginnt ein Himmel von unbeschreiblicher Veränderlichkeit und Größe.“ So beschrieb Rainer Maria Rilke im Jahr 1902 Worpswede, etwa 20 km von Bremen entfernt, am Rande des Teufelsmoors und am Fuße des 54,4 m hohen Weyersberg, gelegenen kleinen Bauerndorfes.

Die archaische Landschaft mit dem weiten Himmel und Licht- und Farbstimmungen hat die Maler um Fritz Mackensen (1866-1953), Otto Modersohn (1865-1943) und Hans am Ende (1864-1918) so fasziniert, dass sie sich dort 1889 angesiedelt haben. Die „wunderbare Poesie des Landlebens“, mit Motiven der dunklen ebenen Moorlandschaft, mit den weißen Birkenstämmen vor dunklem Grün, mit der Hamme und den Torfkähnen mit braunen Segeln darauf, mit den einfachen Moorbauern, mit ihren von der harten Arbeit geprägten Gesichtern und ihren reetgedeckten Hütten, widerspiegeln ihre Bilder.

Die Entdeckung der Künstlerkolonie
Die Entdeckung Worpswedes geht auf den Künstler Fritz Mackensen zurück, der an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte. Dem begabten, aber mittellosen Studenten, aus dem Weserbergland stammend, wurde ein kostenloses Mittagessen gewährt. Beim Freitisch lernte der 18jährige Student Emilie Stolte kennen. Das „Heideröschen“ schwärmte ihm von ihrer Heimat vor und lud ihn nach Worpswede ein. Neugierig geworden, nahm Mackensen die Einladung an und reiste 1884 nach Worpswede, um die Sommerferien im Hause des Kaufmanns Carl Otto Ferdinand Stolte zu verbringen. Von der Landschaft und den Menschen fasziniert, folgten weitere Besuche in den Semesterferien. 1889 brachte der „Entdecker Worpswedes für die Kunst“ seinen Düsseldorfer Studienfreund Otto Modersohn mit nach Worpswede. Im August des Jahres traf mit Hans am Ende ein dritter Malerfreund aus Düsseldorf ein. Hier male ich mein 1. Bild, schrieb er seiner Mutter. Sie machten ausgedehnte Wanderungen durch das Teufelsmoor und viele Studien. Nach dem arbeitsreichen Sommer entschieden sie sich für länger in Worpswede zu bleiben. „Die Gegend wird immer großartiger, ich will noch eine Zeit lang bleiben,“ ist dem Tagebuch von Otto Modersohn zu entnehmen.
Das war gleichsam die Geburtsstunde der Künstlerkolonie. Aus der Sommerfrische und Studienort, wurde ihre neue Wahlheimat. „Frei, selbständig, originell, — Zartheit ohne Süßlichkeit… Kraft, Kühnheit, Herbheit, ohne Brutalität… Besonnenheit und Leidenschaft, Einfachheit, Anspruchslosigkeit, Kindersinn, Naivität, Unbefangenheit, Natürlichkeit, Aufrichtigkeit und eben dadurch vornehm“, schrieb Otto Modersohn, ein Jahr später und formulierte damit auch das künstlerische Programm.
Ein weiterer Studienkollege aus Düsseldorf folgte mit dem Bremer Fritz Overbeck (1869-1909) im Jahr 1892. Dieser wiederum animierte Heinrich Vogler, bei dem er zeitweise im Atelier arbeitete, Worpswede zu besuchen, was er kurz darauf auch machte. Carl Vinnen (1863-1922), der Sohn eines Bremer Reeders, der auf dem nahen Gut Ostendorf lebte, wurde der sechste im Bunde.

Die Künstlervereinigung Worpswede
Die ambitionierten Maler gründeten die „Künstlervereinigung Worpswede“ und veranstalteten 1895 eine erste gemeinsame Ausstellung in der Bremer Kunsthalle. Der dortige Direktor Gustav Pauli schuf die Möglichkeit, um die jungen Künstler zu fördern. Obwohl die Schau von den Kritikern als „Lachkabinett“ bezeichnet wurde, war sie ein großer Erfolg. Im Herbst wurde sie im Münchner Glaspalast gezeigt. Für das großformatige Gemälde „Gottesdienst im Freien“ erhielt Fritz Mackensen die große goldene Medaille. Außerdem verlieh die Stadt Berlin an Mackensen den Ehrenpreis von 3000 Mark. Otto Modersohn, der in der Presse als „Apostel des Hässlichen“ beschimpft wurde, konnte das Gemälde „Sturm im Teufelsmoor“ an die Neue Pinakothek in München verkaufen. Ausstellungen in Hamburg, Berlin, Dresden, Breslau, Wien etc. folgten und bescherten den jungen Künstlern sensationelle Erfolge. Doch nach zehn Jahren löste sich die „Künstlervereinigung Worpswede“ wieder auf. Zu individuell waren die Künstler mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen.

Heinrich Vogelers Barkenhoff
Den Mittelpunkt der Worpsweder Künstlerkolonie bildete Heinrich Vogelers „Barkenhoff“. Der wohlhabende Bremer Bürgersohn, konnte sich seine Träume verwirklichen. 1895 erwarb er ein niederdeutsches Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert, mit vier Morgen Land, das er im Laufe der Zeit nach seinen Vorstellungen zu einem Gesamtkunstwerk, außen wie innen, umgestaltete. Alle Einrichtungsgegenstände entwarf der Künstler im Jugendstil. Die Einheit von Kunst und Leben verbanden sich in seiner „Insel der Schönheit“. Dabei spielte auch der paradiesische Garten mit Teich eine große Rolle. Berühmt waren die reichen Tafelrunden, an denen Persönlichkeiten wie Rainer Maria Rilke, Gerhart und Carl Hauptmann oder Heinrich Mann als Gäste zugegen waren. Während der Feste wurde vorgelesen, musiziert und Theater gespielt, wozu phantasievolle Kostüme vorhanden waren.

Malschülerinnen in Worpswede
Vor allem Fritz Mackensen, der eine Malschule leitete, zog in einer zweiten Phase weitere Kunstschaffende in das abgelegene Moordorf. Darunter auch Künstlerinnen, die keine Möglichkeit hatten, an den Akademien zu studieren und auf Privatunterricht angewiesen waren.
1897 kam Paula Becker (1876-1907) erstmals nach Worpswede, um bei Fritz Mackensen ihre Studien fortzusetzen und siedelte sich bereits ein Jahr später dort an. Sie lernte Otto Modersohn kennen, den sie im Jahr 1901 heiratete. In diesem sogenannten Hochzeitsjahr vermählten sich auch Clara Westhoff und Rainer Maria Rilke sowie Heinrich Vogeler und Martha Schröder.
In ihrem Lilienatelier im Brünjes-Hof schuf Paula Modersohn-Becker viele Kunstwerke, die nur wenige zu Gesicht bekommen haben. Eine erste Ausstellung in Bremen, war ein großer Misserfolg. Der engagierten Künstlerin wurde Worpswede bald zu eng und auch künstlerisch hatte sie andere Vorstellungen. Mehrfach reiste sie nach Paris, um sich in der Weltkunsthauptstadt inspirieren zu lassen. Auf dem Weg zu Einfachheit und Größe ließ sie sich von französischen Künstlern wie Paul Cezanne inspirieren.
„Bei intimster Beobachtung die größte Einfachheit anstreben. Das gibt Größe, “ schrieb Paula Modersohn-Becker 1903 in ihr Tagebuch. Es waren die einfachen Menschen aus der Worpsweder Umgebung, die Moorbauern und Armenhäusler, die sie ohne anekdotische oder genrehafte Diktion erfasste, mit ihren dunklen, oft entstellten Gesichtern und krummgebeugten Rücken. Auch ihre ergreifenden Kinderbildnisse haben dazu beigetragen, dass die Künstlerin, zu Lebzeiten unerkannt, nach ihrem frühen Tod der Künstlerkolonie jedoch ihre Bedeutung in der Kunstgeschichte gab.
Clara Westhoff (1878-1954) kam 1898 nach Worpswede, um bei Fritz Mackensen Zeichen- und Modellierunterricht zu nehmen. Dort freundete sie sich mit Paula an. Als häufige Besucherin des Barkenhoffs, lernte sie dort ihren späteren Ehemann, den Dichter Rainer Maria Rilke, kennen. Ihre künstlerische Neigung wechselte mehr zur Bildhauerei und es zog sie, wie viele Künstler nach Paris, wo sie bei Auguste Rodin studierte. Nach Deutschland zurückgekehrt, bezog sie nach der Hochzeit mit Rilke im nahen Westerwede ein gemeinsames Haus, das sie ein Jahr später schon wieder verließen, weil Rilke nach Paris übersiedelte, um dort eine Monografie über Auguste Rodin zu verfassen. Der Dichter war es auch, der mit „Worpswede. Monographien einer Landschaft und ihrer Maler“, eine erste kunstgeschichtliche Würdigung über die nordische Künstlerkolonie geschrieben hat.

Expressionistische Architektur von Bernhardt Hoetger
Bernhard Hoetger (1874-1949) machte 1906 in Paris, im Atelier von Auguste Rodin, die Bekanntschaft mit Paula Modersohn-Becker, die ihn zum Umzug nach Worspwede inspirierte. Den 1915 erworbenen Brunnenhof baute er zum repräsentativen Wohn- und Atelierhaus um und den Park schmückte der Bildhauer mit seinen Skulpturen. Ein eigenes expressionistisches Haus und die Worpsweder Künstlerhäuser errichtete der vielseitige Künstler und Architekt dann im Jahr 1921. Die Große Kunstschau, als überkuppelter Rundbau, folgte dann 1927 in nur sieben Wochen. Mit der Rotunde hat Bernhard Hoetger einen gradlinigen und dennoch atmosphärischen Ausstellungsraum geschaffen, in dem die Werke der Worpsweder Künstler, damals wie heute, gezeigt werden konnten.
Durch die Bekanntschaft mit dem Bremer Fabrikanten für Kaffee-HAG, Ludwig Roselius, bekam Bernhardt Hoetger den großen Auftrag für die Neugestaltung der Bremer Böttcherstraße, im Herzen der Bremer Altstadt. Das Paula Modersohn-Becker Museum, das erste Museum, das einer Künstlerin gewidmet wurde, gehört zu diesem einzigartigen expressionistischen Ensemble.

Gemeinsamkeiten
Von den Gründern der Künstlerkolonie haben alle, bis auf Hans am Ende, an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert, die europaweit als eine anerkannte altehrwürdige Institution galt und für die Landschafts- und Genremalerei bekannt war. Dort haben sie einander kennengelernt und wichtige künstlerische Impulse erfahren. Auch wenn die Worpsweder Maler ihre akademischen Fesseln abstreifen wollten, war ihnen die Bedeutung ihrer akademischen Ausbildung bewusst. Die jungen Maler orientierten sich zunächst an der Landschaftsauffassung von Barbizon, das, südlich von Paris gelegen, als Mutter aller Künstlerkolonien gilt. Die dort gepflegte Freilicht- und intime Landschaftsmalerei übertrugen sie in die nordische helle Landschaft. Für die unsensationellen, nahsichtigen Bildausschnitte, in denen Menschen eine untergeordnete Rolle spielen, sollte allein die Natur ihre Lehrerin sein.
Der Erfolg stellte sich schnell ein und weitere Künstler besuchten Worpswede und ließen sich dort nieder. Bis heute ist Worpswede ein reges Künstlerdorf, mit Museen, Galerien, Künstlerhäusern und Ateliers.

                                                                                         Monika Öchsner